Jeder Aktuar und Mathematiker macht sich anhand der üblichen veröffentlichen Zahlen vermutlich seine eigenen Gedanken zur weiteren Entwicklung und zum Verständnis der bisherigen Fallzahlen. Insbesondere ein ungezügeltes exponentielles Wachstum kann jedem Angst machen. Die derzeitige Strategie lässt sich folgendermaßen beschreiben: Die Kurve der Infizierten oder auch Neuinfizierten muss flacher werden, damit das Gesundheitssystem hiermit umgehen kann. Außerdem wird so wertvolle Zeit für die Vorbereitung gewonnen.
Wenn man nun einfachste mögliche Modelle in Excel bastelt, ergeben sich trotz dieser Einfachheit einige Erkenntnisse. Dabei kann man ein wenig mit den Parametern wie der Sterberate, der Anzahl schwer erkrankter Fälle oder auch dem Zeitraum zwischen einer Infektion und dem Ausbruch der Krankheit und evtl. Todesfällen Szenarien generieren. Dies ergibt dann doch einige qualitative Aussagen:
- Der zeitliche Verzug zwischen einer Infektion und der Erkrankung und evtl. Todesfällen lässt einen Vergleich zwischen der aktuellen Anzahl von Todesfällen und der aktuellen Anzahl an getesteten Infizierten nicht zu. Wenn, dann müsste man die aktuelle Anzahl von Todesfällen mit der Anzahl von Infizierten vor 10 bis 20 Tagen vergleichen.
- Bei üblichen Sterberaten, die aufgrund der starken Altersabhängigkeit deutlich zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen variieren können, zeigt sich, dass die Anzahl der positiv getesteten Infizierten vor z.B. 14 Tagen nicht wirklich gut mit der Anzahl der heute beobachteten Todesfällen zusammenpasst. Eine naheliegende Hypothese ist, dass die Anzahl der Infizierten höher ausfällt als die Testergebnisse offiziell berichten. Derartige Szenarienberechnungen sind aufgrund des exponentiellen Verlaufs jedoch hochgradig sensitiv.
- Solange die Anzahl von Infizierten weiterhin exponentiell steigt, und sei mit einer noch so kleinen Basis der Exponentialfunktion größer als 1, wird die Anzahl der Intensivpatienten analog exponentiell zunehmen wie auch die Anzahl der Todesfälle. Hierbei hilft auch nicht, dass nach zwei oder drei Wochen überlebende Intensivpatienten wieder entlassen werden können. Die Dynamik ist einfach zu groß. Es verläuft einfach alles nur langsamer. Bei einer Basis von 1,01 dauert es damit z.B. ein halbes Jahr, bis sich die anfängliche Zahl von Intensivpatienten verachtfacht hat, wiederum unter der Berücksichtigung, dass nach zwei Wochen Intensivpatienten ein Bett freigeben können.
- Einziger Weg einer Eindämmung ist demnach, die Basis unter 1 zu bekommen. Dann bricht das Infektionsgeschehen von alleine zusammen.
Die übliche Formulierung von der „Verflachung der Kurve“ ist also gleichzeitig richtig und falsch. Ziel muss sein, die Basis oder anders gesagt die Anzahl von Neuinfizierten durch eine infektiöse Person, auch Basisreproduktionsrate genannt, unter 1 zu drücken.
Diese Aussagen und Szenarien finden sich – etwas verklausuliert – auch in einer Studie, die auf der Webseite des RKI veröffentlicht wurde, siehe Modellierung von Beispielszenarien der SARS-CoV-2-Epidemie 2020 in Deutschland (20.3.2020). Hier lässt sich zusätzlich schön erkennen, welche Bedeutung das „Kontakttracing“ hat.
Auch die Stellungnahme des Deutschen Ethikrates vom 27. März thematisiert dies und beschreibt, dass eine erfolgreiche Strategie „erreicht ist, wenn die Zahl der Menschen, die eine infektiöse Person ansteckt, statistisch betrachtet dauerhaft unter eins liegt“ (Seite 6).
Die Aufgabe ist damit klar. Jeder Infizierte darf weniger als eine weitere Person neu infizieren. Ein Vergleich zwischen der Sterblichkeit aufgrund von Covid-19 und der üblichen Basissterblichkeit in Deutschland erfolgt morgen.
Ergänzung vom 3.4.2020:
Wie oben geschrieben, endet eine Epidemie nur, falls die Basisreproduktionsrate unter eins fällt. Falls dies nicht erreicht wird, die Basis für die exponentielle Entwicklung jedoch nur sehr wenig größer als eins ist, verteilen sich alle Infizierten über einen längeren Zeitraum. Dies ist mit dem vielfach zitierten Verflachung der Kurve gemeint.
Wichtig ist für diese Betrachtungen, dass die Anzahl der Neuinfizierten gegenüber der Zeit aufgetragen wird. In dieser Art der grafischen Darstellung ist die Fläche unter Kurve bis zu einem Zeitpunkt t die Gesamtzahl aller bis t Infizierten, die Kurve selber gibt die Anzahl der Neuinfizierten an. Eine Verflachung der Kurve (kleinere Basis der Exponentialfunktion) führt somit dazu, dass das Maximum der Neuinfizierten geringer ausfällt, die gesamte Fläche unter der Kurve (also die Anzahl der insgesamt Infizierten) jedoch gleich bleibt. Damit dies jedoch einen erheblichen Effekt auf das Maximum der Neuinfizierten hat, muss die weitere Verbreitung tatsächlich sehr langsam erfolgen und würde über Jahre gehen, wenn man ein paar Szenariorechnungen anstellt. Andererseits besteht ja hoffentlich Aussicht auf einen Impfstoff oder eine sonstige medikamentöse Behandlung.
Aus statistischer Perspektive könnte man nun versuchen, die maximalen Behandlungskapazitäten zu jedem Zeitpunkt optimal auszuschöpfen. Bei den öffentlich genannten Bettkapazitäten käme man dazu, dass ca. 30.000 bis 60.000 Neuinfizierte pro Tag behandelt werden könnten, also 900.000 bis 1.800.000 pro Monat.
Dies zeigt deutlich, dass realistische Strategien nur ein Abbruch der Infektionskette oder einen Impfstoff beinhalten können.
Einen sehr guten Einblick in das mögliche Geschehen gibt folgender Bericht des Imperial College UK: